A city of villages
Film: Tokyo! Medium: 35mm, OmeU Laufzeit: 110 min Regie: Michel Gondry, Leos Carax, Bong Joon-ho Genre: Drama Wertung: 7/10 |
Im Vergleich zum zuletzt besprochenen Tekkon Kinkreet steht hier auf den ersten Blick deutich mehr eine japanische Stadt im Mittelpunkt, stellt sie doch den Titel und in diesem Fall das einzige Bindeglied dreier Segmente, die zusammen den Film „Tokyo!“ bilden. Ein Ausrufezeichen setzt man gar dahinter, und lässt auf dem Asia Filmfest in München vor der Vorstellung eine Japanerin zu Worte kommen, die im Prinzip nichts zu sagen hat außer sinngemäß „Tokyo ist mir zu groß“. Und dazu noch mit Fächer und im Kimono, eieiei, können wir bitte noch mehr Klischees auf die Bühne bringen? Doch eigentlich soll es hier um den Film gehen...
Die Stadt ist nicht feindselig, doch einen festen Platz will (kann?) sie den Neuankömmlingen auch nicht bieten. Als Er Sie im Bann seines amateurhaften Filmes zunehmend vernachlässigt und bei ihr alles schiefgeht, durchwandert sie schließlich eine surreale Transformation, die ihr nun doch den Platz in der Stadt, im Leben zuweist, der sie glücklich macht. So plötzlich wie das surreale Element den Film betritt, so selbstverständlich ist es auch, völlig natürlich fügt es sich ein – typisch Gondry. Es ist eine fast poetische Geschichte, die mit einer schicksalhaften Trennung zweier Menschen glücklich macht.
Auf Gondrys feel-good-Kino folgt der Fremdkörper der Trilogie, 'Merde' von Regisseur Leos Carax. Ein in Tokyos Unterwelt lebendes, unheimlich hässliches und maximal asoziales menschliches Wesen betritt die Welt da oben, frisst Geld und Blumen und findet schließlich ein paar intakte Handgranaten aus dem zweiten Weltkrieg, die es/er auf den gut gefüllten Straßen anzuwenden weiß. Die Polizei verhaftet ihn und sperrt ihn weg. In Frankreich meldet sich derweil ein Rechtsanwalt, der die eigenartige Sprache des Insassen beherrscht. Es folgt eine Gerichtsverhandlung im Übersetzungsdreieck unterweltisch-französisch-japanisch, in der die Motive für den Massenmord offenkundig werden. Das Segment balanciert zwischen eher unterschwelliger Ernsthaftigkeit und schierem Trashhumor, zieht gerne mal quälend in die Länge und entzieht seinen Protagonisten schließlich ganz das Menschliche, nähert ihn an einen Geist an und an eine tragische Existenz, die das Leben liebt und die Lebenden verabscheut. In der Umsetzung aber ein Stück zu reißerisch, beizeiten zu albern, als dass man sich gerne länger Gedanken darüber machte.
Den Abschluss bietet Bong Joon-Hos Segment 'Shaking Tokyo', das sich das Phänomen des hikikomori zum Thema nimmt, welches z.B. auch in der sehr empfehlenswerten Animeserie „Welcome to the NHK“ umgesetzt wurde. Hikikomori bezeichnet sowohl das soziale Phänomen als auch die betreffenden Personen: Menschen, die ihre Wohnung nicht mehr verlassen. Oft wird dafür der Erfolgsdruck der japanischen Gesellschaft verantwortlich gemacht, dem sich die hikikomori entziehen wollen, doch die Motive können natürlich unterschiedlichst sein. Der Protagonist hat seine Wohnung seit elf Jahren nicht verlassen, fast ebenso lange hat er keinem Menschen in die Augen gesehen. Die unzähligen Bücher und Zeitschriften, denen er den Großteil seiner Zeit widmet, lässt er sich genauso liefern wie das Essen. Das Geld kommt von seinem Vater mit der Post – „nur Geld, keine Briefe mehr in den nächsten Jahren“. Eines Tages erblickt er durch den Türspalt das Strumpfband der Pizzalieferantin und kann nicht anders, als ihr in die Augen zu sehen. Es folgt ein Erdbeben, in dem sie sich scheinbar endlose Sekunden gegenüberstehen, ehe sie zusammenbricht und in seine Wohnung fällt. Was auf die Panik folgt ist eine seltsame, scheinbar zunächst einseitige Liebesgeschichte, die ihn schließlich dazu bewegt seine Wohnung zu verlassen. Nur um Tokyos Straßen leer vorzufinden, denn hikikomori ist der einzig übrig gebliebene Lebensstil geworden.
In der kurzen Laufzeit eines Segments lassen sich schlecht sämtliche Facetten einer solchen psychologischen Umkehrung zeigen, doch der koreanische Regisseur hat ein gutes Händchen für die richtigen Kleinigkeiten und dabei auch ein, zwei Kitschigkeiten gegen Ende. Die Invertierung eines vorherrschenden Tokyobildes, das der konstanten Überfülltheit, ist ein ebenso netter Einfall wie im overdub geäußerte Ausdrücke der hikikomori-Welt, die Beschreibung der Lichtqualitäten etwa: in der Sonne herumlaufen versus dem Sonnenlicht beim Wandern über die Tatamimatten zuzusehen. Es ist eine überraschend nachvollziehbare Welt, doch der Ausbruch aus derselben erscheint plötzlich, ob nun gewollt überrumpelnd oder dem filmischen Zeitrahmen geschuldet. Insgesamt eine nette Romanze mit interessantem Tempowechsel und für mich ein guter zweiter Platz hinter Gondrys Werk.
Wer in dem Film wahlweise neue Erkenntnisse oder zumindest schwelgerische Bilder zur Stadt Tokyo an sich erwartet, sollte sich definitiv anderweitig umsehen. Tokyo bleibt zumeist reine Bühne, hin und wieder werden noch allgemein bekannte Eigenschaften der Stadt (wie winzige, überteuerte Wohnungen) zur Grundlage der Geschichte. „Tokyo!“ ist eher eine lohnende Sammlung dreier sehr verschiedener Kurzfilme, die man im nicht ganz so tollen japanischen Kino der Gegenwart als positives Beispiel erwähnen sollte. 7/10, da ich mir den mittleren Beitrag nicht noch einmal freiwillig ansehen würde.
sutereo - 3. Nov, 18:28