Musik
Grenzen müssen manchmal überschritten werden. Mit Konventionen wird gebrochen, es klirrt. Am Ende liegt da der wohl am schönsten funkelnde Scherbenhaufen, den das junge Jahrtausend bislang zu bieten hat. Das Phänomen Wilco. Zum zweiten Mal in mein Leben getreten, um den leisen Verdacht aufkommen zu lassen, dass das hier keine Menschen sein können. Und das geht folgendermaßen:
a) Wilco beginnen ihre Platte mit 'At Least That´s What You Said'. Jeff Tweedy sitzt auf dem Bett seiner Freundin. Fast schüchtern tänzelt die Klaviermelodie um seine Stimme. "And I Thought it was cute for you to kiss my purple black-eye, even though I caught it from you". Und als wollte man jetzt dem Song eins auf die Nase geben, stampft da plötzlich ein trotziger Rhythmus mitsamt Sägegitarren durch das Bild. Der bleibt da, macht sich breit, gibt den Opener nicht mehr her.
b) 'Hell Is Chrome' ist pure Schönheit. Einer der besten Songs die je geschrieben wurden. Diskussionen ausgeschlossen.
c) 'Spiders (Kidsmoke)' fummelt sich an dritter Stelle über 10 Minuten durch ein minimalistisches Soundgerüst und wirft dabei mit Kraut und Rüben. Die erste Geduldsprobe. Ehrensache, dass auch dieser Song aus seiner Schale bricht und man plötzlich genug Bauklötze staunt um damit Hochhäuser zu bauen.
d) 'Handshake Drugs' ist Euphorie ist w-a-h-n-s-i-n-n.
e) 'I´m a Wheel' dreht wortwörtlich am Rad und wirkt beim ersten Hören deplaziert. Muss hier aber rein. Einfach weil hier nicht nur alles möglich ist. Weil hier alles passieren muss.
f) 'Less Than You Think' zerbricht nach drei Minuten Schwermut in ein zwölfminütiges Pfeifton-Brummel-Gemisch. Die reinste Frechheit. Bruchsicher geht anders.
Was die Beweisstücke a) bis f) wie alle zwölf Stücke auf "A Ghost Is Born" verdeutlichen: Der "Geist" des Albums ist launischer Natur. Hinter den vielfältigen, oft ungewöhnlichen Ansätzen verstecken sich all die süßen Bitterheiten (und bitteren Süßigkeiten), die man von Melodieführungen erwarten kann. Die Benutzung von Kopfhörern und ein angemessenes Maß an Aufmerksamkeit werden empfohlen. Danke für alles, Wilco.
9/10
sutereo - 9. Okt, 23:49
Okay, mir war nicht gerade nach dem Verfassen von Rezensionen diesen Monat, aber da kommen baldigst wieder neue (alle beiden Leser des Blogs staunen jetzt gerade?).
Heute daher meine kurze Playlist, die mich den Nachmittag durch begleitet hat.
1. The Album Leaf - Into The Blue Again
Dieses Kleinod habe ich mir gestern für faire 13€ beim Weltbeherrscher-Elektronikkaufhaus geleistet. The Album Leaf ist ein Soloprojekt von Jimmy Lavelle, der sonst (unter anderem?) bei den SciFiGrindcore-Bekloppten the Locust spielte. Hier gibt es wunderbaren Dreampop mit sanfter Elektronik, der etwas an Sigur Ros erinnert. Oder in Schokoriegeln: Wo Sigur Ros etwas zu süß schmeckt und dank all dem Karamell Fäden zieht, bleibt Album Leaf stets knusprig und trotzdem lecker schmelzend. 'Red Eye' ist schon ein ziemlicher Wahnsinn. Wunderschöne Musik!
2. Joy Division - Closer
So, jetzt ein Klassiker. Muss man kennen, essentiell, Pflichtstoff, etc.
Die tiefe, unterkühlte Stimme von Ian Curtis ist jedenfalls schon Grund genug sich hiermit zu beschäftigen. Hinzu kommt eine sehr feine Rhythmusfraktion, die jeden Song streng durchrechnet und verankert. Ein paar Keyboards und Gitarren ohne Lebenslust darüber, Ian im Zentrum - fertig ist die tanzbare Depression. Ach, nein, so schlimm ist das alles nicht. Das hier ist so cool wie Winter in Norwegen. Oh, und wer Interpol, die Editors und co mag muss das hier besitzen.
3. Earth - Earth 2
Jetzt haben wir genug Musik gehört, Zeit für eine Runde absolute Schwärze. Drei Songs in 73 Minuten, Bass und Gitarre. Ein schier endloses Rauschen und Mäandern in einem Paralleluniversum, in dem Zeit absolut keine Rolle spielt. Bewusstsein mal an den Haken hängen und sich von Verstärkern begraben lassen. Grenzerfahrung, aber lohnenswert.
4. Blackmail - Bliss Please
War ich nie der Riesenfan von, kommt aber gerade ganz gut zum Abschluss des Nachmittags und Beginn des Abends. Vor allem die leicht Oasis-mäßigen, langsameren Stücke sind gut zum Schuhe angucken. Den angeblich so druckvollen Passagen fehlt es meiner Meinung nach aber eben an Druck, an Lärm, an Wut.
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sutereo - 30. Sep, 18:32
Jaja, die sechshundertdreiundzwölfte Sonic Youth, schätzungsweise. Und mittlerweile gibts auch noch eine mehr. Aber das ist ja egal, denn wie jedes Album der New Yorker Indiedinos ist auch 'Sonic Nurse' eine Sache für sich. Wie beim Vorgänger 'Murray Street' darf Jim O´ Rourke als fünftes Bandmitglied mitmusizieren. Der Kampf Kunstkrach gegen Popmusik fiel diesmal zu gunsten der letzteren aus, ist allerdings im Vergleich zum Wohlklang der aktuellen Platte doch deutlicher vorhanden.
Das zeigt bereits der Opener 'Pattern Recognition', der in sechseinhalb Minuten versucht alle Qualitäten der Band zu bündeln. Kim Gordon darf singen und bellen, Dynamik kommt übers Effektpedal und diese zuckrig melancholischen Melodien machen am Ende Platz für einen famosen Feedbackstrudel, wie ihn halt am besten Sonic Youth backen. Äußerst schmackhaft, Noise und Indiepop. 'Unmade Bed' und 'Dripping Dream' zeigen sich harmlos, verunsichern nur empfindliche Naturen, und sind trotzdem von Interesse. Einfach, weil sich zum Beispiel im dritten Track die Gitarren wieder so unwiderstehlich klare Töne zuspielen, der Beat so unbeirrt an der kurzen Leine hoppelt. Irgendwann gipfelt es ja doch wieder im Crescendo. Dann aber kurz und wirksam. Doch jetzt darf Kim wieder ran, eine Trademark-Kim! 'Kim Gordon and the Arthur Doyle Hand Cream' ist eine Kratzbürste, ist "dirty", ist scharf gewürzt. Jetzt nimmt die Platte Fahrt auf. 'Stones' ist ein wunderbares Lied für Hotelzimmer und Spaziergänge am Sonntag. Die Behandlung bei der 'Dude Ranch Nurse' erfolgt mit kaum sterilen, aber umso schärferen Instrumenten. Und wem das zuviel ist, der lässt sich von 'I Love You Golden Blue' betäuben, einem wunderbaren psychedelischen Sonnenstrahl.
Zwar kann man sich bei diesem Album durchaus wohlfühlen, doch es funkelt da eine dunkle, bluesige Note. Es ist eine Schönheit, wie auch das zugehörige Artwork. Aber die schönsten Mädchen sind am Ende doch meist die gefährlichsten. Und wer dieser Krankenschwester hinterherpfeift, dem klingeln bald die Ohren.
8/10
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sutereo - 5. Sep, 23:06
Wer waren eigentlich Drive Like Jehu? Irgendwann reichte es mir. Immer diese Referenzen an diese ominösen Pioniere, für dies und das. Screamo, Math, anspruchsvoller Hardcore, bla bla. Waren das Drive Like Jehu? Ich bin zu jung und unerfahren, um nun darüber zu richten. Fakt ist, sie haben zwei Alben aufgenommen. Das zweite heißt Yank Crime. Nachdem es 15 Monate in meinem Besitz verweilt, traue ich mir zu Worte zu finden, die dieses Ding hier annähernd beschreiben könnten.
Der erste Song heißt "Here Come The Rome Plows", was mir genausoviel sagt wie Bandname und Albumtitel. Er dauert fünf Minuten und vierundvierzig Sekunden. Eine hinterfotzige Bassline kickt einen ins Stück, das nach acht Sekunden von einem Hornissenschwarm überfallen wird. Oder sind das Gitarren? Der Schlagzeuger zuckt mit den Achseln und animiert lieber zum Fußwippen in der gehobenen Geschwindigkeitsklasse. Zu den Hornissen gesellen sich Termiten, die nun an deinen Stuhlbeinen knabbern. Erste Erkenntnis: Das Drive im Bandnamen kommt nicht von ungefähr, sondern von ziemlich genau diesem Groove da. "Here come the rome plows, rome plows, ROME PLOWS!". Jetzt sollte es aber jeder verstanden haben. Nein? Fragen stellen können die Herren aber auch: "Do You Compute". Ein monotones Gitarrenriff krakelt auf der Tafel rum, während sich geradezu entspannt die Rhythmusfraktion einspielt. Jetzt passiert etwas Unvorhergesehenes: Der Ausbruch erfolgt mit wankenden Tönen, in deren Schieflage man sich fast wohlfühlen kann. Die Sirenen läuten trotzdem noch, auch in diesem Song. Sieben Minuten und zwölf Sekunden. Spannungen aufbauen und fallen lassen, eruptive Breitseiten und versöhnliche, aber nie einschmeichelnde Zerfaserungen. Sonic Youth und Refused. Vorher und Nachher. Hier kommt man mit mindestens einem blauen Auge davon.
"Golden Brown", das ist fast ein Hit. Doch, echt, dazu kann man ziemlich zackig tanzen. Dann kommt ein kleiner Bastard namens "LUAU", der in seinen neun Minuten und siebenundzwanzig Sekunden Schweißausbrüche provoziert. Ja, der Typ singt da tatsächlich immer wieder "Aloha! Suit Up! Luau, luau". Stop and go Rhythmus, Mitgröhlrefrain, brutales Gefrickel zum Ende hin. Ein Song wie Ausdauertraining. Und wie geht das bitte noch weiter? Nicht schlechter. Im späteren Verlauf spannen wir beim "New Intro" aus, widmen uns in "New Math" der Chaostheorie und lassen uns vom feingliedrigen, ja, wunderschönen "Sinews" die Schuhe ausziehen. Die CD Fassung kommt mit drei Bonustracks, u.a. einer alternativen, noch besseren und ungeschliffeneren Sinews-version sowie dem geradlinig rasenden "Bullet Train To Vegas".
In seiner Gesamtlänge ist Yank Crime, nicht zuletzt wegen drei obendraufgesetzten Bonustracks, nicht ganz einfach zu hören. Könnte auch ein Qualitätsmerkmal sein? Prädikat, jedenfalls:
Geheimtipp, Klassiker, verdammt großes Ding.
8/10
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sutereo - 29. Aug, 01:16
Nachdem die Songstruktur das letzte Mal dank Melt-Banana an der Schallmauer zerbrochen ist, sind diesmal Bohren & Der Club Of Gore an der Reihe mit destruktivem Schaffen. Nur, dass diese vier Herren aus deutschen Landen den genau umgekehrten Weg gehen. Wie langsam kann man Musik eigentlich spielen? Wie tot kann sie sein? Wie klingt Doom-Jazz?
Der Club gibt Antworten, 140 Minuten lang auf einem Doppelalbum, auf dem streng genommen garnichts passiert. Elf namenlose Tracks mit stets zweistelliger Spielzeit wetteifern in Monotonie und Schwere. Supertiefe Bassklänge hängen sekundenlang im dunklen Raum, ergänzt durch ein nur spärlich gestreicheltes Schlagzeug und wummernde Gitarren- oder Keyboardklänge. Abweichungen im Schema gibt es ebensowenig wie Gesang. Passend dazu das Booklet mit vielen hübschen "Großstadt bei Nacht"-Fotos, womit auch gleich der ideale Rahmen für dieses akustische Erlebnis gebaut wäre. Wer (zum Beispiel mangels Auto) nur selten nachts im Auto unterwegs ist, kann mit Bohren auch spazieren gehen oder sein Zimmer klangfarblich schwarz streichen. Ein guter Begleiter zu nächtlichen und nachdenklichen Zeiten ist er sicherlich. Erwartet man von Musik hingegen eingängige Melodien, Rhythmus oder einfach irgendetwas Handfestes, könnte man hier nicht falscher liegen.
Okay, die eine Ausnahme gibt es ja doch: der letzte "Song" hat einen richtigen Beat, ist für Bandverhältnisse verdammt schmissig und passt überhaupt mal garnicht aufs Album. Ich find ihn ja schon sehr groovy, aber Stilbruch bleibt Stilbruch. Bleiben immernoch 128 Minuten einzigartiger Tristesse. Dieses Album ist so eiskalt, wie es warm ist, und spannend, wie es garnicht sein dürfte. Verrückt. Willkommen im Club!
8/10
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sutereo - 21. Aug, 18:00
"Free the Bee" fordert der erste Track. 45 Sekunden lang piepst und flirrt das, was mal ein Intro sein sollte, an einem vorbei, ehe Bass und Schlagzeug übereinanderstolpern und eine Gitarre mit den Fingernägeln über die Tafel kratzt. Die Stimme von Sängerin Yasuko ist hoch, sehr hoch, und verkündet Stakkatopoesie. "Electric, archaic, cosmic, i doubt... Clash!". Nicht zuviel versprochen. Im dritten Track "Lost in Mirror" sind die Japaner rhythmisch komplex wie nie, laden zu ekstatischem Zucken ein statt den Hörer wie üblich mit Highspeedparts niederzuknüppeln. Aber keine Panik, ab "First Contact to Planet Q" werden wir auf eine kleine Reise durchs Weltall mitgenommen, in der die nötige Schubkraft einer Rakete zum Planeten Q vorzüglich vertont wird. Das hochfrequente Fiepen im fünften Track lässt an den Tinitus nach dem letzten Konzert der japanischen Noiseterroristen denken und selig grinsen. Agata, der Gitarrist (wenn man ihn denn so nennen will) könnte mit seiner Effektpalette so ziemlich jeden grobkörnigen Horrorstreifen vorzüglichst vertonen. Bei Melt-Banana sorgt er für Entsetzen oder Verzückung, abhängig von Hörgewohnheiten. In "Skit Closed, Windy..." pluckert sogar ein Jazzpart, ehe das abschließende "Moon Flavor" geradezu tanzbar im Sechseck hüpft. Jedoch: "The ship can leave but burst like Bang!!". Die Drohung wird im Hidden Track wahrgemacht, dessen unschuldiges Rauschen von einer der klassischen, wenige Sekunden langen Komplettvermöbelungen zerschossen wird.
Und wir sind raus. Man hört die Vögel auf einmal viel lauter zwitschern, sieht sich um ob noch alles in Ordnung ist auf dem Schlachtfeld. "Teeny Shiny" ist das Destillat der besten Momente von Melt-Banana. Es verbindet die gerade nötige Menge an Songwriting mit der ureigenen Energie und einer sehr guten Produktion sowie, jetzt kommts, einer Handvoll Melodien. Ziemlich großartig.
7/10
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sutereo - 15. Aug, 14:08
Da fängt man nun an, sein Leben ausschnittsweise der Öffentlichkeit schriftlich anzubieten. Und fühlt sich doch eigentlich seit Tagen (nun, fünf an der Zahl) wie ein matschiger Kaffeebecher. Im Regen. Ich lese ungern sowas. Aber ein bisschen gut fühlt es sich schon an, sowas zu schreiben. Nicht des Mitleids wegen, sondern des von-der-Seele-schreibens wegen.
So, welchen Soundtrack wähle ich für den Schwermutmarathon? Da gab es schon ein paar Versuche: the Cure, das Disintegration Album. Ist mir fast zu fröhlich. Radiohead, 'OK Computer': Funktionierte kurzzeitig, aber so ganz verliebt habe ich mich in deren Musik noch nie. Unweit dieser beiden Scheiben in meiner Sammlung: Wilcos 'Yankee Hotel Foxtrot'. Und die ist ein Fall für sich. Man kann sie das erste mal hören und als nette Popmusik mit Störgeräuschen empfinden. Hier und da könnte man mit dem Finger auf Folk und Country zeigen, auf Pavement, auf das ja schon recht hübsche Artwork mit seinen Fotos von Hochhäusern, dem Meer, dem Himmel. Man kann sich wundern, wie das schleichende, bittere 'Radio Cure' zwischen zwei eher beschwingten Popnummern sitzt und einem Trübsal ins Ohr bläst. Man ist nach elf Liedern vielleicht sogar ein wenig enttäuscht, hatte man doch so Großes über das Album gelesen. Über ein halbes Jahr später: ich fühle mich wie ein matschiger Kaffeebecher. Im Regen. Wilco lassen gerade in 'Jesus, etc.' Geigen ertönen und Jeff Tweedy singt "Jesus don´t cry, you can rely on me honey". Obwohl ich nicht verstehe, wie er das meint, und obwohl ich mich nun wirklich nicht für Jesus halte, muss ich ein bisschen lächeln und tatsächlich Tränen unterdrücken.
Die Songs auf Yankee Hotel Foxtrot sind nur auf den ersten Blick einfache Songs. Sie sind mit unzähligen Details besetzt, die mit jedem Hören mehr zu funkeln scheinen. Sie jonglieren mit tröstenden Melodien und sind doch nicht besser gelaunt als man selbst. Und wenn ihnen danach ist, verschwinden sie in einem wunderbaren Rauschen. Moment, vielleicht sind diese Songs noch nicht einmal alle traurig oder schwermütig! Aber sie verstehen mich. Verdammt, kann Liebe schön sein.
10/10
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sutereo - 12. Aug, 14:58